Beschreibung
Victor Montoya schildert das Leben der bolivianischen Untertag-Bergleute, ihren täglichen Kampf und ihre Tragödien, die eng mit dem magischen und mythischen Realismus der indigenen Kulturen verwoben sind … Im Zentrum steht der „Tio“: für die einen eine phallische Gottheit, für die anderen ein Dämon, der über Erzfunde geradeso wie über Leben und Tod der Bergleute verfügt …
In der „Legende vom Tio“ schildert Victor Montoya mit hohem erzählerischem Geschick und sozialer Verantwortung das Leben der bolivianischen Untertag-Bergleute, ihren täglichen Kampf und ihre Tragödien, die eng mit dem magischen und mythischen Realismus der indigenen Kulturen verwoben sind.
Im Buch werden Erzählungen einer mündlichen Tradition festgehalten, die wahrscheinlich schon auf den Bergbau während der Inka-Herrschaft zurückgehen. Sie betreffen Volksglauben, Legenden, Riten und Symbole einer Gesellschaft, die sich mit deren Hilfe das Geschehen ihrer unmittelbaren Lebenswelt zu erklären versucht. Ursachen ihres schweren Schicksals sollen dadurch verstehbar werden.
Die zentrale Figur in den Stollen, Strecken und Schächten der Bergwerke, aber auch über Tag – der Tio – findet seine ersten mythologischen Vorläufer im Hades der Griechen. Der Tio verfügt über das Füllhorn der wertvollen Metalle, ist aber gleichzeitig ein teuflisches Höllenwesen. Seine erotisch-anziehende Frau – Chinasupay – drängt sich in die Träume der Bergarbeiter.
Die Figur des Tio wird als omnipotent dargestellt. Mit ihr beginnt das Buch („Warum sich der Teufel Tio nennt“): Der dämonische Tio verführt eine Frau um mit ihr einen Sohn zu zeugen. Die kirchlichen Macht – sein magisch-religiöser Gegenspieler – schreitet ein und verbrennt die unschuldige Mutter sowie ihren sehnlichst erwarteten Sohn auf dem Scheiterhaufen. Der Tio rächt sich an den Bergarbeitern, indem er alle ihrer Schätze verschwinden lässt – bis sie schließlich mit ihm einen Pakt eingehen, der ihm die absolute Herrschaft über die Erze und Abbaustätten zusichert. Fortan fordert er rituelle Ehrerbietung (in Form von Opfergaben wie Kokablätter, Zigarren und Schnaps) und absolute Gefolgschaft bei seinen Plänen und Handlungen.
Der Tio selbst begründet detailliert seine Herkunft (mit Bezug auf den Glauben der Urus, einem alten Volk in der Region des Titicaca-Sees), seinen Bruch mit Inti (dem Sonnengott der Inka) und wie er die vier Plagen (Schlange, Kröte, Rieseneidechse und gefräßige Ameise) über die Menschen kommen ließ, um die Macht der Inka-Prinzessin Anti-Wara zu brechen, vor allem aber ihre Wandlung zur Schutzgöttin der Bergarbeiter. Dank der Kraft des Aberglaubens, in dem frühere heidnische Elemente mit solchen christlicher Herkunft vermischt sind, wurde auch der Tio mit Luzifer vermischt und wird nun mit einer Mischung aus Angst, Zuneigung und Respekt verehrt.
Die Erzählungen vom Tio zeugen vom Respekt gegenüber der oralen Tradition, sie einen die Mineros und ermöglichen eine Verankerung innerhalb eines sozio-kulturellen Raumes, sie ermöglichen Verhalten und Geschehnisse zu erklären, und rechtfertigen das Auftauchen geheimer Wünsche und Begierden.
Die Gottheiten dieser besonderen Mythologie mischen sich in den Alltag, in die Ängste, Träume und Leidenschaften der Menschen. Sie sind ein einigendes Merkmal und dienen der Markierung als Schicksalsgemeinschaft in Armut, Hilflosigkeit, vor allem aber der erlebten sozialen Ungerechtigkeit einer Gruppe, deren Verschwinden die Gesetze des internationalen Marktes quasi beschlossen hatten.
So kommt dieser Sammlung von Erzählungen die große Bedeutung der Dokumentation zu. Erstes Ziel des Autors ist es, die Legenden, Symbole und Rituale – die mit der sozio-kulturellen Identität einer Gruppe verbunden sind – im kollektiven Gedächtnis zu verankern.